Hildesheim, südöstlich in Niedersachsen gelegen, war im Mittelalter europaweit bekannt für die Herstellung qualitativ hochwertiger Bronzearbeiten*. Über die Stadtmauern Hildesheims bekannt sind beispielsweise die Bernwardstür, die Christussäule oder auch Bernwardsäule im Hildesheimer Dom und das ebenfalls dort beheimatete Taufbecken. Ein weiteres kunstvolles Objekt, welches heute im Hildesheimer Dommuseum ausgestellt ist, ist die so genannte Drachenaquamanile, die im 12. Jahrhundert in Hildesheim gefertigt wurde. Dabei handelt es sich um ein Wassergießgefäß in der Form eines Drachens, welches zur rituellen Handwaschung genutzt wurde. 2016 konnte es für 1,3 Millionen Euro mit der Hilfe der Stiftung Niedersachsen, der Ernst von Siemens Kunststiftung, der Kulturstiftung der Länder und der Klosterkammer in einer Auktion bei Christie‘s in London für das Dommuseum erworben werden. Ursprünglich war das Gefäß auch noch vergoldet. Hiervon ist nach fast 800 Jahren nicht mehr viel zu sehen. Zusätzlich hat es – dem Alter entsprechend – kleine Beulen und Schrammen. Um das wertvolle Original vor weiteren Beschädigungen zu schützen, hatte Jonas Fey (36), Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe Peine-Salzgitter GmbH (VPS) die Idee, für die Abschlussarbeit seines berufsbegleitenden Studiums an der Hildesheimer Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (kurz HAWK) im 3-D-Druck eine originale Replik der Drachenaquamanile zu erstellen.
Jonas, erst einmal vorab, wie war Dein beruflicher Werdegang?
Den Anfang machte bei mir eine Ausbildung zum Industriemechaniker. Über einen Bekannten habe ich dann erfahren, dass bei VPS neue Mitarbeiter gesucht werden. Daraufhin habe ich mich beworben und so dort 2007 als Lokschlosser in der Instandhaltung meinen Einstieg ins Berufsleben gefunden. Gearbeitet habe ich zu Beginn im 5-Schicht-Betrieb und bereits einen Monat später dann – schichtbegleitend – meine zweijährige Weiterbildung zum Industriemeister begonnen. Im Jahr 2012 habe ich noch einen fünfmonatigen Lehrgang zum internationalen Schweißfachmann „nachgeschoben“. Seit 2013 bin ich jetzt als technischer Sachbearbeiter im Bereich Arbeitsvorbereitung tätig und hier vor allem für die Lok- und Güterwageninstandhaltung zuständig. 2017 habe ich dann in Vollzeit neben der Arbeit mein Studium im Bereich Metall- und Produktdesign an der HAWK in Hildesheim begonnen. Das war in dieser Form aber nur möglich, weil mir die VPS als Arbeitgeber wahnsinnig entgegengekommen ist. Trotz Schichtsystem konnte ich einzelne Schichten so flexibel legen, dass sie sich nicht mit den Präsenzseminaren an der Hochschule überschnitten haben. Ohne diese von mir hochgeschätzte Flexibilität, hätte ich das Studium jetzt im August – nach knapp drei Jahren – auch noch nicht abschließen können. Da bin ich der VPS wirklich sehr dankbar.
Wie ist die Idee entstanden, ein berufsbegleitendes Studium zu beginnen?
Das ist vielleicht eine etwas ungewöhnliche Geschichte. Ich habe mit meiner Familie fast drei Jahre lang direkt neben der Hochschule gewohnt und mich immer gefragt, was da eigentlich passiert und gelehrt wird. Und da ich mich schon immer für Design und die Arbeit mit unterschiedlichen Werkstoffen interessiert habe, habe ich eines Tages, natürlich nach Rücksprache mit meinem Arbeitgeber, dann einfach mal meine Bewerbungsmappe abgegeben. Ein weiterer Faktor für diesen Schritt war auch der Wunsch, etwas Neues lernen zu wollen und sich nicht auf dem bisher Erreichten auszuruhen. Also sprichwörtlich „einfach mal den Horizont erweitern“. Dass der Weg bis zur Aufnahme an der Hochschule etwas weiter werden würde, wusste ich zu dem Zeitpunkt natürlich nicht (lacht). Nach der Abgabe meiner so genannten „künstlerischen“ Bewerbungsmappe mit mindestens sieben Arbeitsproben, folgte ein persönliches Vorstellungsgespräch und abschließend noch eine praktische, künstlerische Befähigungsprüfung, die man mit einer guten Note bestehen musste. Aber das habe ich alles geschafft und konnte so 2017 dann schließlich an der HAWK mein Studium beginnen. Sportlich hinzu kam noch, dass ich 2016 für mich und meine Familie in einem Dorf bei Hildesheim ein Haus gebaut habe, wo es natürlich immer wieder mal etwas zu tun gibt. Aber wie heißt es so schön…man wächst mit seinen Aufgaben! (lacht)
Eine 800 Jahre altes Wassergießgefäß und moderner 3-D-Druck – wie kam es zu dieser „Symbiose“ für Deine Bachelorarbeit?
Ich wollte mich in der Abschlussarbeit meines Bachelorstudiums gerne mit etwas beschäftigen, was nicht so alltäglich ist. Und da ich mich schon länger für die Technik des 3-D-Scans und -Drucks interessiert habe, passte die Geschichte mit der Drachenaquamanile natürlich perfekt. Den Kontakt zum Dommuseum hatte mein Professor von der HAWK vermittelt. Bei einem gemeinsamen Gang durch das Museum, zeigte mir Museumdirektorin Dr. Claudia Höhl dann die Drachenaquamanile und äußerte den Wunsch, zu Forschungszwecken gerne eine Replik davon haben zu wollen. So fügte sich dann eins zum anderen und das Thema meiner Bachelorarbeit war geboren.
Wie genau lief die Arbeit mit der Drachenaquamanile dann ab?
Zu Beginn ging es für mich erst einmal darum zu klären, ob von der Drachenaquamanile mittels 3-D-Digitalisierung überhaupt eine Kopie erstellt werden kann. Ziel sollte es sein, eine hundertprozentige Kopie des Originals anzufertigen, an der dann geforscht werden kann (gerade auch auf Funktionsweise und Verwendung des Gefäßes) und um primär erst einmal das Original zu schonen. Ein weiterer, wichtiger Punkt bei meiner Arbeit war es aber nicht nur einfach eine Replik zu erstellen, sondern gleichzeitig auch die am Original vorhandenen, in Jahrhunderten entstandenen Fehlstellen und Beschädigungen, mit digital neugestalteten Elementen zu beseitigen. Und das alles, ohne das wertvolle Original berühren zu müssen. Hierfür bot in meinen Augen die 3-D-Digitalisierung mit Techniken wie 3-D-Scan, CAD-Datenverarbeitung (CAD steht hierbei für Computer-Aided Design) und computergestützter 3-D-Modellherstellung das größte Potential. Ein weiterer, nicht unbedeutender Vorteil ist, dass die dann vorliegenden digitalen Datensätze immer wieder abgerufen werden können, um mittels 3-D-Druck weitere Repliken zu erstellen.
Hat denn gleich von Beginn an alles geklappt?
Die ersten Versuche zur 3-D-Digitalisierung der Drachenaquamanile führte ich mit zwei unterschiedlichen Handscannern durch. Bei diesem Verfahren arbeitet der 3-D-Scanner mit zwei Lasern und einer Kamera und wird, wie der Name schon sagt, von Hand geführt. Das Ergebnis war für mich aber nicht zufriedenstellend, da vor allem die Detailschärfe noch zu ungenau war. Für meinen dritten Versuch nutzte ich mit Unterstützung der Firma GOM aus dem Braunschweiger Stadtteil Rüningen das Verfahren der Photogrammetrie. Bei diesem Verfahren werden Objekte berührungslos vermessen. Dieses kann über die Fotografien spezieller Messkameras erfolgen, aber auch über Laserscanner. Die komplette Apparatur für die „Vermessung“ der auf einem Drehstuhl stehenden Drachenaquamanile, hatten wir in einem Raum des Museums aufgebaut, der fast zu klein dafür gewesen ist. Am Ende überzeugte vor allem die Detailschärfe dieses Verfahrens: Selbst die kleinsten Details, beispielsweise Ornamente oder Bördelkanten, waren nahezu perfekt dargestellt. Damit war ich aber noch nicht am Ende. Die so erstellten Aufnahmen wurden jeweils in einzelne Polygonnetze umgewandelt. Für die Drachenaquamanile brauchte ich knapp acht Aufnahmen aus unterschiedlichen Perspektiven, um über das Zusammenführen der Polygonnetze erst einmal ein augenscheinlich geschlossenes CAD-Modell zu erhalten. Augenscheinlich deshalb, weil es hier natürlich auch Überschneidungen gibt und auch „Löcher“ entstehen können, also Bereiche wo keine Daten vorliegen. Deshalb hieß es für mich anschließend nächtelang alle gewonnenen Daten, wie bei einem großen Puzzle am Computer zu bearbeiten, um final ein einzelnes, komplettes und vor allem fehlerfreies Polygonnetz zu erhalten. Außerdem musste ich am Ende meines Bearbeitungsprozesses auch noch die Wandstärke (1,5 mm) der Drachenaquamanile generieren, da der 3-D-Scan ja nur die Oberfläche erfasste.
Vom Computermodell zur fertigen Replik – wie ging es für Dich weiter?
Für mich persönlich folgte jetzt eigentlich erst der spannendste Teil meiner Bachelorarbeit. Dieser Moment, wenn Deine riesigen Datenmengen den zweidimensionalen Raum verlassen und sie mit der Hilfe von Epoxidharz im 3-D-Druck die dreidimensionale Ebene betreten und Du erstmalig – nach der Aushärtung mit UV-Licht – ein genaues Abbild des historisch wertvollen Bauteils in deinen Händen hältst. Absolut faszinierend! Erinnert mich immer wieder an den „Replikator“ aus der Star Trek-Serie (lacht). Beschichtet werden kann die Drachenaquamanile mit den unterschiedlichsten Materialien. Wir haben zum Beispiel ein Modell mit Silberleitlack leitend gemacht und es dann mit feinem Kupfer beschichtet. Die Schicht hier ist nur 0,3 Millimeter dick und war fast 50 Stunden im Galvanisierungsbad.
Ein weiterer Bestandteil meiner Bachelorarbeit, neben der Herstellung der Replik, war auch die Entwicklung von Ideen, was mit dem neu erworbenen Wissen und den Möglichkeiten des 3-D-Drucks noch realisierbar wäre und entsprechende Konzepte hierfür zu erstellen. Nach Gesprächen mit Museumsdirektorin Dr. Höhl habe ich dann verschiedene Szenarien durchgespielt. So könnte die Replik zum Beispiel für die Besucher des Museums als „begreifbares“ Objekt zur Verfügung stehen. Weiter hätten beispielsweise Schulklassen die Chance, den Gebrauch und den Zweck des Objekts zu begreifen und die Optik und Haptik der Drachenaquamanile zu „erforschen“. Außerdem könnten – ein für mich sehr interessanter und spannender Aspekt – alle möglichen Arten von Souvenirs und Spielwaren entwickelt und hergestellt werden, welche die antike Aquamanile repräsentieren. Ich denke da zum Beispiel an 3-D-Puzzles für Kinder, Ohrringe in Form der Drachenaquamanile, kaufbare, kleine Repliken mit Silber- oder Kupferlegierung für den Museumsshop oder auch Weingummi. Die Möglichkeiten sind hier eigentlich unbegrenzt. Um das wirtschaftlich betreiben zu können, müssten zukünftig natürlich Firmen gefunden werden, die uns hier mit ihrer Expertise bei der Herstellung einzelner Produkte unterstützen und die einzelnen Sachen kostengünstig produzieren. Dass ich eine Replik in Originalgröße, die erst aufwendig aus Epoxidharz hergestellt und dann noch über 50 Stunden mit einer dünnen Kupferschicht überzogen wird, nicht für 15 € im Museumsshop verkaufen kann, sollte eigentlich jedem klar sein (lacht).
Jonas, wir danken Dir für dieses interessante Gespräch und die wirklich spannende Entstehungsgeschichte der Drachenaquamanile-Replik als Teil Deiner Bachelorarbeit!
Nachtrag: Jonas erhielt Anfang September für seine hervorragende Bachelorthesis mit dem Titel „Berührungslos – Reproduktion, Neugestaltung und Transformation von historischen Kulturgütern“ den Rotary Club Hildesheim Rosenstock-Preis der Fakultät Gestaltung an der HAWK im Sommersemester 2020.
*In einer Untersuchung vor einigen Jahren fand man heraus, dass die mittelalterlichen Werkstätten in Hildesheim sehr wahrscheinlich Erz aus dem Goslarer Rammelsberg für ihre Bronzearbeiten verwendet haben.
Zusätzliche Info:
Neben der erfolgreichen Replizierung der historischen Drachenaquamanile, hat Jonas im Rahmen seines Studiums 2019 mit von ihm entworfenen Burger-Spießen den Design-Award des Klingenmuseums Solingen in der Junior-Kategorie gewonnen. Diese Spieße werden inzwischen von der Firma Lurch AG aus Hildesheim industriell gefertigt.